Coswiger Str. 22
06886 Lutherstadt Wittenberg
Geöffnet:
Mittwoch und Samstag von 11 bis 19 Uhr
Freitag von 15 bis 19 Uhr
und nach Vereinbarung unter 0177 3432606
oder auch bei Gelegenheit...
Rainer Maria Rilke schrieb in seinem Buch über den Bildhauer Auguste Rodin von jener STILLE, die um große Dinge sei, ob diese nun groß seien oder klein.
Diese Dinge enthielten zugleich Bewegung und Gegenbewegung, sie ruhten in sich, sie schauten in sich – er sprach von einem Schauen, dem man nicht begegnen könne. Dann dieser eine Satz, wie geschrieben für mich: Seine Formen seien wie ein Anvertrautes durch seine Hände gegangen, rein und heil.
Ich machte meine erste Skulptur als ich 52 geworden war. Und vielleicht ist es ja so, dass ich die mir anvertrauten Formen nur rein und heil durch mein Leben tragen konnte, indem ich meine Kunst NICHT machte. Ich hätte sie verraten müssen in jenem Augenblick, in dem sie entstand, entstehen wollte, 1976 oder 1977, ich war da gerade 17 geworden. Zum anderen waren die mich umgebenden Prozesse und Ereignisse, ja auch meine Empfindungen zu schwierig, zu differenziert, wohl auch oft zu verzweifelt, um in genau jenen Formen ausgedrückt werden zu können, die meine werden wollten – ich brauchte für dieses schwierige Leben das Wort.
So sind die Formen mit mir durch die Worte gegangen, reiften, wurden zu steinstillen, von mir unbemerkten Gefährten. Die Skulpturen, die nun seit 2012 entstehen, sind unterdessen sichtbarer als das nur Geistige. Sie können anwesend sein, Zeugnis ablegen von ihren Begegnungen mit dem Leben, dem Denken, der Dichtung, der Kunst, von ihrer Begegnung mit mir. Und noch einmal Rilke: Alles ist austragen – und dann gebären.
Und Kinder wachsen auf mit tiefen Augen,
Die von nichts wissen, wachsen auf und sterben,
Und alle Menschen gehen ihre Wege.
Und süße Früchte werden aus den herben
Und fallen nachts wie tote Vögel nieder
Und liegen wenig Tage und verderben.
Und immer weht der Wind, und immer wieder
Vernehmen wir und reden viele Worte
Und spüren Lust und Müdigkeit der Glieder.
Und Straßen laufen durch das Gras, und Orte
Sind da und dort, voll Fackeln, Bäumen, Teichen,
Und drohende, und totenhaft verdorrte…
Wozu sind diese aufgebaut? Und gleichen
Einander nie? Und sind unzählig viele?
Was wechselt Lachen, Weinen und Erbleichen?
Was frommt das alles uns und diese Spiele,
Die wir doch groß und ewig einsam sind
Und wandernd nimmer suchen irgend Ziele?
Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der ‚Abend‘ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt
Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.
Ballade des äußeren Lebens
Hugo von Hofmannsthal
Das Kreuz / Stein / 2024 / Foto Olaf Mokansky
Eine Bronze entsteht im Wachsausschmelzverfahren: Hier der "Der Knoten" als Wachsform, vorbereitet für den Guss.
Weitere neue Bronzen aus diesem Jahr
Für Rainer Maria Rilke / Engel der Geschichte / Stein
Die malenden Steine 2024
Der Schlaf in den Steinen / Die malenden Steine / Stein / 25x26 cm / 2024 / Fotos Olaf Mokansky
2023
Zum Leben erwecken / Für Paul Eluard / Stein / 26 cm / 2023-2024 / Fotos Olaf Mokansky
Alter Friede / Engel der Geschichte / Stein / 25,5 cm / 2023 / Fotos RFB Scholz
Müde / Für Gertrud Kolmar / Biografische Landschaften / Stein / 33 cm / 2021 / Fotos Olaf Mokansky
Panta rhei / Für Goethe / Die malenden Steine / Stein / 40 cm / 2021 / Fotos Olaf Mokansky
Friede / Für Wolfgang Borchert / Engel der Geschichte / Bronze / 43 cm / 2023 / nach einer Skulptur von 2019 / Fotos Olaf Mokansky
von links:
Allein / Stein
Für Rainer Maria Rilke / Engel der Geschichte / Stein
Niemand singt / Engel der Geschichte / Stein
Fotos Heidrun Feistner
Widerstand / Für Peter Weiss / Engel der Geschichte / Stein
Zur Ausstellung ist ein umfangreicher Katalog mit einer Einführung von Dr. Paul Kaiser erschienen.
Anfragen und Information
Reformationsgeschichtliche Forschungsbibliothek
Sekretariat
Schlossplatz 1
06886 Lutherstadt Wittenberg
Tel.: +49 34 91 50 69 200
sekretariat@rfb-wittenberg.de
Die Müde
Dies Müde, Flügellose ruht auf mir
So wie ein großes, sanftes, goldnes Tier.
Uns trägt was schwillt: ein Trank, der überlief.
Es blickt mich an. Sein Blick ist gut und tief.
Es lastet schwerer und mein Atem hebt
Es nicht mehr auf. Sein Drachenmantel webt
Ins Düster sich. Ein Zackenkrallen spinnt,
Drum schale Milch aus einem Mohnkopf rinnt.
Nun darf ich nur noch eigne Lider sehn,
Die blau und grüne Pfauenräder drehn.
Ich habe kein Gesicht mehr. Hauch wird Stein.
Bedächtig kehrt mein Schauen in mich ein.
Es steigt hinab, hinab, es fällt, wird dicht.
Der Schwarzschlund sackt es ein: es wehrt sich nicht.
Es sinkt geballt in tauben Mauernkern.
Es ist in sich. Nur seltsam klar und fern
Scheint auch dies Müde, Flügellose hier,
So wie ein kleines, silbern sanftes Tier.
Gertrud Kolmar
Bronze beauftragt:
Jetzt auch als Bronzefassung:
Für Georg Heym und Ernst Balcke
An der Havel
Sie treten rückwärts aus geteilten Schatten
Schon geht das Abendlicht geradeaus
Durch Bucht und Bäume geistern die Fregatten
Die Angler töten nicht sie ruhen aus
Der Fluss sei blind doch die durch Helles dringen
Verspiegelt sind die Worte unter dem Eis
Schreie vergeblich wollten wir auch singen
Aus einem Rohr von dem noch eines weiß
Und Gegenfarben wie im Vers gefroren
Der bricht und taucht nach einem Blick zum Grund
Wer atmet dort mit anderer Arten Ohren
Vielleicht kennt Zärtlichkeit doch einen Mund
Die Plastikboote wippend an den Wegen
Wogegen Enten treiben in den nahen Hafen
Und Schafen gleich die Schwäne an den Stegen
Und kleine Hügel drehen sich zum Schlafen
Heidrun Feistner 2011
Future Landscape
Die Natur holt sich den Menschen zurück. Im Bestreben, diesem „Sog“ zu entkommen, setzen einige auf die Technik als ungebrochenes Instrument jenes Fortschritts, der in der wachsenden Entfernung des Menschen von Natur vermessen wird. Andere nehmen den Weg der Umkehr zur Natur, deren Agens wir doch sind, suchen nach einem gemeinsamen Weg.
Die Kunst vermag hier beispielhaft vorzugehen. Sie enthält die Möglichkeit der Vergeistigung des Anorganischen, der Materie, bewahrt einen Traum, den nur wir selber zu träumen vermögen: in uns träumt die Natur. Es ist der uralte Traum der Versöhnung mit ihr, die uns gewaltig, geschändet, ungezähmt gegenübersteht, mehr und mehr als Rächerin unseres eigenen Versagens vor ihr. Jener Traum wurde und wird in der Kunst gelebt als universelle Idee der Befreiung, wir nannten sie Utopie, jetzt beschreiben wir sie auf der Suche nach einem Begriff. Die Kunst, begreifen wir, kann gar nicht anders, als „utopisch“ zu sein.
Atlantis erinnert das Untergangsszenario einer Hochkultur, gibt ihr meine Form. Wie sollte Zukunft ohne die Gegenwart der Katastrophe gedacht werden können. Diese Skulptur gehört zur Serie Engel der Geschichte, es ist eine meiner ersten Arbeiten. Wenn man sie dreht, erkennt man: sie zitiert Werke der Renaissance. Weiter sind hier Für Paul Klee, Für Friedrich Hölderlin und Für Rainer Maria Rilke vertreten, die im letzten Jahr entstanden. Es sind dreidimensionale Zwiesprachen mit existenziellen philosophischen und literarischen Texten.
Meine Arbeiten wollen vielschichtig, mehrdeutig, wandelbar sein. Im Wechsel der Ansicht ändert sich häufig der Charakter, der Ausdruck eines Gesichts, viele Steine stecken in einem Stein. Häufig "schnitt" ich Sequenzen in die Steine hinein - hinein wie in einen Film. Was auch immer ich tat: Die Skulptur bleibt in sich geschlossen, bleibt homogen.
El canto general formuliert den Gesang des Lebendigen, den Gesang des Lebens in organischen Formen, welche uralte Ambivalenzen der Zuneigung und der Abwehr zu transportieren vermögen. Im Denkmal für ein Meer und in den Dämmerungen, im Grunde sind beide Gedichte, wird Poesie als ein möglicher Ort des Verschmelzens von Natur, Geist, Seele erkannt.
Der Leib des Menschen wird als Skulptur zur Landschaft, nicht nur zu ihrer Erweiterung, sie wird zur Neuschöpfung der Natur. Die Natur vollendet sich hier im Menschen, im Einklang mit ihm. Die malenden Steine (Hier dabei: Vita nova mea, Zu zweit) entstehen gemeinsam mit dem vorgefundenen Material – grundsätzlich ohne Vorzeichnung, ohne Entwurf, im freien Spiel eines gemeinsamen Eros.
Sich durchlässig machen im Prozess des Formens, das immer auch ein Gebären ist. Es befreit die Form aus dem Stein, so arbeite ich, ich befreie so gern. Die Oiselettes gestalten ein Frauenbild: Il Bacio, ein Körpergesicht, nimmt den Geist in den Körper zurück, hebt historische Trennungen auf. Hier fehlt ja kein Kopf, der Körper ist nun seine Form. Das verrückte Grün lebt das freie, befreite Dasein in einer zum Ende der Serie geführten abstrakten Form.
Heidrun Feistner, Berlin 2020
Future Landscapes
Nature is reclaiming mankind. In the attempt to escape this "maelstrom", some are relying on technology as an unbroken instrument of progress that is measured by nature in the perception of humans. Others take the path to return to nature, but we are their agents, looking for a common path.
Art can be exemplary here. It has the possibility of spiritualizing the inorganic, the matter, of venturing into a dream that only we ourselves can dream: within us nature is dreaming.
It is the age-old dream of reconciliation with it, which is confronting us with tremendous, violated, untamed force, more and more as the avenger of our own failure facing it. That dream was and will be in art as a universal idea of liberation, we have called it utopia, now we are looking for a term. We understand that art cannot help but be “utopian”.
Atlantis commemorates the doom and gloom scenario of high culture, it is creating my shape. How should the future be conceived without the present of the catastrophe? This sculpture is part of the Angels of History series, it is one of my first works. If you turn it, you can see that it quotes several works from the Renaissance. Für Paul Klee, Für Friedrich Hölderlin, Für Rainer Maria Rilke, which were created last year, are also represented here. They are three-dimensional conversations with existential philosophical and literary texts.
My work wants to be multi-layered, ambiguous, alterable. A change of perspective often changes the character, the expression of a face, many stones are living in a single stone. I often "cut" sequences into the stones - like in a film. Whatever I did: the sculpture remains self-contained, remains homogeneous.
El canto general is expressing the song of the living, the song of life in organic forms, which are able to convey ancient ambivalences of affection and defense. In Memorial to a Sea and Dämmerungen, basically both poems, poetry is recognized as a possible place of the merging of nature, spirit, soul.
As a sculpture, the human body becomes a landscape, not just an extension, it becomes a new creation of nature. Nature is perfected here in man, in harmony with him. The painting stones (here: Vita nova mea, Für Friedrich Hölderlin, Two by two) are created together with found material - basically without a preliminary drawing, without a draft, in the free play of a collective eros.
Making yourself permeable in the process of sculpting, which is always also a form of giving birth. It is freeing the shape from the stone, that's how I work, I love to set free. The Oiselettes create an image of women: Il Bacio, a body face, takes the spirit back into the body, eliminating historical divisions. No head is missing here, the body is now its form. The crazy green is living the free, liberated existence in an abstract form leading to the end of the series.
Heidrun Feistner, Berlin 2020
Parallel zu der Ausstellung "Atlantis" im Zentrum Berlins gab es die als Gegen-Ausstellung konzipierte Ausstellung "Engel der Geschichte / Vita umbrae" am Rande der Stadt in der Galerie der Gießerei Flierl in Berlin-Weißensee. Im Anschluss wurden diese beiden Ereignisse am Leipziger Platz zusammengeführt. Eine Dokumentation dieser zweiten Ausstellung finden Sie hier.
Heidrun Feistner: Atlantis / Engel der Geschichte / Stein / 2013 und 2014 / Foto Christine Kösser